Erkundung: Provinz Kunduz, Afghanistan, Oktober 2010

„Ob es uns politisch gefällt oder nicht, so ist die Lage. Ob wir es so nennen oder nicht, so ist die Lage. Die Lage so zu nennen, sind wir all denen schuldig, die sich vor Ort den Gefahren aussetzen“ (Bundesminister Guido Westerwelle während einer Rede vor dem Deutschen Bundestag am 10. Februar 2010)

Diese Worte, mit denen der deutsche Außenminister den Afghanistan-Einsatz erstmals als nicht-internationalen bewaffneten Konflikt qualifiziert hatte, liegen noch in meinen Ohren, als ich schweißgebadet in einer Bundeswehr-Transall sitze, die im Sturzflug das Airfield in Kunduz ansteuert. Während es auf dem Lufttransport von Termez zum Zwischenstopp nach Mazar-E-Sharif noch recht heiter zuging, hängen die Teilnehmer dieses Fluges in bedrückender Stille ihren Gedanken nach. Die Gesichter der sich eng an eng gegenüber sitzenden Soldatinnen und Soldaten sprechen Bände. Einige haben ihren Helm unter den Sitz geschoben, um bei möglichem Feindbeschuss geschützt zu sein. Es geht nach Kunduz, in den Kessel, wie die Region mittlerweile von den deutschen Truppen vor Ort bezeichnet wird. Die Zeiten von Bad Kunduz waren lange vorbei. Es ist 2010, das Jahr, in dem die Bundeswehr hier die schwersten Gefechte ihrer Geschichte führt. Ich befinde mich mit meinem Kommandeur und einigen weiteren Kompaniechefs auf einer Erkundungsreise. In knapp acht Monaten übernehmen wir hier die Verantwortung. Nach einer harten Landung öffnet sich die Laderampe der Transall. Die glühende Sonne durchflutet den Frachtraum, die Soldatinnen und Soldaten booten in zwei Reihen nach hinten aus und ein beißender Geruch aus Benzin und Staub kriecht sofort in meine Nase. Vorbei an russischen Hubschrauberwracks und bewaffneten Guards geht es ohne viel Zeit zu verlieren zu aufgefahrenen Patrouillenfahrzeugen, die uns in zügiger Fahrt in das deutsche Feldlager, das Provincial Reconstruction Team (PRT) Kunduz, bringen. Einige Stunden später befinden wir uns im Tactical Operations Centre, von dem aus das Gesamtgeschehen des neu aufgestellten deutschen Gefechtsverbandes, der Task Force Kunduz, koordiniert wird. Von hier kann die Situation der im Raum befindlichen Kräfte mit Drohnen überwacht werden, es gibt Spezialisten für Steilfeuer und Luftnahunterstützung. Der Kommandeur funkt mit dem Kompaniechef der 2. Kompanie, der in den frühen Morgenstunden des 17. Oktober mit der Gesprächsaufklärung in einer Ortschaft im Unruhedistrikt Chahar Darreh begonnen hat. Nach wenigen Minuten hört man ihn schreien: „Stehen im Feuerkampf, ich wiederhole, stehen im Feuerkampf, melde mich in Kürze, Ende!“. Wir werden des Raumes verwiesen. Es gilt sich nun zu konzentrieren und den »Tourismus« zu unterbinden, der in der Operationszentrale einzusetzen droht, sobald sich sicherheitsrelevante Zwischenfälle ereignen. Die Zeit vergeht, ohne dass wir ein klares Lagebild erhalten können. Fragmente lassen uns erahnen, was sich »draußen« gerade ereignet: Die Panzerhaubitze 2000, ein im Feldlager Kunduz befindliches Artilleriegeschütz, beginnt zu feuern, eine Drohne wird gestartet, amerikanische Rettungshubschrauber heben ab. Wir erfahren erst später, dass ein feindlicher Heckenschütze während des Gefechtes Oberstabsgefreiten Tim Focken, einen jungen deutschen Fallschirmjäger, schwer verwundet hat. Ein Schulterdurchschuss. Nicht der erste und auch nicht der letzte Angehörige der Kompanie, dessen Einsatz durch eine Verletzung vorzeitig beendet werden muss.

 

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Autor: Marcel Bohnert

Textausschnitt aus dem Beitrag: "Extremerfahrungen als Zerreißprobe. Zum Wandel der Streitkräftekultur durch den Einsatz in Afghanistan."

erschienen in: Uwe Hartmann/Claus von Rosen (Hrsg.)(2013): Jahrbuch Innere Führung 2013. Die Wissenschaften und ihre Relevanz für die Bundeswehr als Armee im Einsatz. Miles-Verlag: Berlin, Seiten 327 bis 344.

 

 

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