Armee im Aufbruch
"Als ich in Kunduz landete, war das ein wichtiger Moment. Vielleicht sogar der bedeutsamste meines bisherigen Lebens" (Johannes Clair, Autor von »Vier Tage im November« in: »Armee im Aufbruch«, Miles-Verlag, 2014)
Nach vielen Dekaden einer theoretischen Bedrohung haben inzwischen mehr als 135.000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in Afghanistan erfahren, was es heißt, Verantwortung in einem Kampfeinsatz zu übernehmen. Einige von ihnen haben in schweren Gefechten mit Scharfschützengewehren, Granatmaschinenwaffen und Handgranaten gegen einen asymmetrisch operierenden Feind gekämpft und gezeigt, dass sie ihr Handwerkszeug auch in einem komplexen Umfeld beherrschen. Die Bundeswehr hat damit ihre Bewährungsprobe bestanden. Der Preis, den sie dafür zu zahlen hatte, war hoch: Mehr als 50 Deutsche mussten am Hindukusch ihr Leben lassen, über dreißig davon bei Anschlägen und Gefechten. Etwa 300 wurden verwundet und viele mehr traumatisiert.
Deutsche Soldatinnen und Soldaten haben auch selbst verletzt und getötet. Als tiefe Zäsur der Mission gilt das Bombardement zweier Tanklastzüge auf Befehl des damaligen Obersten Georg Klein im September 2009. Es beförderte die Situation der Truppen in Nordafghanistan in voller Intensität in das Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit. Weite Teile der Bevölkerung waren bis dahin noch der Illusion eines humanitär orientierten Stabilisierungseinsatzes erlegen, obwohl sich die Lage in den Provinzen Kunduz und Baghlan seit spätestens 2008 zunehmend verschärft hatte. Zu einem nachhaltigen Interesse an den regelmäßigen Scharmützeln deutscher Kräfte hatte allerdings auch dieses Ereignis nicht führen können. Eine Situation, die auch über zwölf Jahre nach Beginn der deutschen Beteiligung an der Mission den Status Quo des Verhältnisses von Bundeswehr und Öffentlichkeit noch immer gut beschreibt.
Auch wenn die mangelnde gesellschaftliche Teilhabe mitunter zu Frustration und Resignation geführt hat, blicken deutsche Soldatinnen und Soldaten stolz und selbstbewusst auf den Afghanistan-Einsatz zurück. Er war ihre Feuertaufe und hat sie zu ihren militärischen Wurzeln zurückgeführt. Wichtige Entwicklungen in den Streitkräften wurden angestoßen; sei es in Bezug auf Ausrüstung, Struktur oder Mentalität. Zudem hat er der Bundeswehr offenbar auch ihre längst vergessene Mündigkeit in Erinnerung gerufen.
In dieser Atmosphäre wächst auch die Generation junger Kampftruppenangehöriger heran. Sie ist der Bundeswehr in vollem Wissen über die Intensität aktueller Einsätze beigetreten und trifft inzwischen in allen Bereichen der Streitkräfte auf die »Generation Einsatz« – auslandserfahrene Kameradinnen und Kameraden, die sie an ihrem Erfahrungsschatz teilhaben lassen. Hierdurch konnten sie sich bereits die Bedeutung der Pflicht zur Tapferkeit vergegenwärtigen, die Angehörige der Kampftruppen in besonderer Weise fordert. Sie verlangt die Überwindung der Furcht vor konkreten Gefahren und schließt ein hohes Risiko für das eigene Leben sowie die physische und psychische Gesundheit ein. Natürlich haben in Afghanistan nicht nur gepanzerte Kräfte oder Infanteristen gekämpft. In Gefechte waren ebenso Artilleristen, Pioniere oder Sanitäter verwickelt. Anschläge wurden auf Fernmelder, Logistiker oder Aufklärer verübt. Selbst Angehörige von Luftwaffe und Marine waren regelmäßig in Unruhedistrikten eingesetzt. Die personelle Hauptlast der Einsätze außerhalb geschützter Feldlager trugen naturgemäß jedoch Soldatinnen und Soldaten der Kampftruppen. Ihren Kommandeuren, Kompaniechefs und Zugführern oblag zudem die Planung und taktische Führung von Operationen und Gefechten. Das begründet einen besonderen Status dieser Kräfte. Er ist Ehre und Belastung zugleich.
Trotz einer zunehmenden Technisierung und Automatisierung des Gefechtsfeldes werden Bodentruppen auch in den kommenden Jahren noch immer eine entscheidende Rolle in Strategien zur Konfliktlösung spielen. Nicht umsonst werden unsere Streitkräfte trotz einer generellen Verkleinerung nach der aktuellen Strukturreform noch über 18 Kampftruppenbataillone verfügen. Ein Blick in die Zukunft macht einen Großeinsatz im Stile der Afghanistan-Mission für die Bundeswehr und ihre Verbündeten auf absehbare Zeit zwar unwahrscheinlich, da die finanziellen und moralischen Folgen des Engagements zu schwer wiegen. Spätestens nach den einvernehmlichen Ausführungen des Bundespräsidenten, des Außenministers sowie der Bundesministerin für Verteidigung auf der Münchner Sicherheitskonferenz zum Jahresbeginn 2014 ist allerdings klar geworden, dass sich Deutschland künftig verstärkt in die Lösung weltweiter Krisen und Konflikte einbringen wird. Sie alle verwiesen auf eine hohe Verantwortung in der Welt und forderten die Öffentlichkeit auf, aus ihrer Lethargie zu erwachen. Im Kampf für Menschenrechte und das Überleben Unschuldiger dürfe der Einsatz des Militärs als äußerstes Mittel nun einmal nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Diese Ausführungen markieren das Ende der deutschen Zurückhaltung im Rahmen von internationalen Bündnissen und einen Kurswechsel hin zu einer aktiveren Außen- und Sicherheitspolitik. Auch wenn Deutschland derzeit noch hinter diesen Vorsätzen zurückbleibt, zeigen Waffen- und Hilfslieferungen sowie erste Personalabstellungen zur Abwendung eines Völkermordes im Irak, dass diesen Worten nun auch Taten folgen.
Konfliktherde, die auch unseren Wohlstand bedrohen und potenzielle Szenarien für Einsätze unserer Streitkräfte darstellen, zeichnen sich darüber hinaus vom nordafrikanischen Bogen bis hin zur türkischen Grenze ab. Wie sich die andauernde Krise zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine langfristig auf das weltweite Sicherheitsgefüge und die internationale Verteidigungspolitik auswirken wird, bleibt noch abzuwarten. In jedem Falle ist die Beteiligung der Bundeswehr an den Einsätzen in Mali, der Zentralafrikanischen Republik und Somalia vermutlich nur ein Vorbote dessen, was unsere Soldatinnen und Soldaten in den kommenden Jahren auf dem afrikanischen Kontinent und anderswo erwarten wird. Sie werden wieder mit irregulär kämpfenden Gegnern konfrontiert sein, die Guerillataktiken anwenden und das Humanitäre Völkerrecht missachten. Auch wenn die Schwelle zu Kampfeinsätzen noch immer hoch liegt, werden Angehörige der Bundeswehr über kurz oder lang auch in diesen Regionen ihr Leben lassen müssen.
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Autor: Marcel Bohnert
Textausschnitt erschienen in: Marcel Bohnert & Lukas J. Reitstetter (Hrsg.)(2014): Armee im Aufbruch. Zur Gedankenwelt junger Offiziere in den Kampftruppen der Bundeswehr. Miles-Verlag, Berlin, Seiten 15 bis 19 ( http://www.Armee-im-Aufbruch.de )
Interview ZDF heute mit Marcel Bohnert zum Sammelband: http://www.heute.de/buch-armee-im-aufbruch-soldaten-riskieren-bei-auslandseinsaetzen-ihr-leben-und-wollen-dafuer-mehr-anerkennung-36822030.html
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